Inneringen, St. Martin, II/20 – Opus 420

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Eine Königin erklingt wieder

Inneringen St. Martin, Orgel von Wilhelm Blessing 1865, Rekonstruktion 2012

Die Geschichte der Orgel

Der Kirchenneubau erhielt zunächst die Orgel der alten Kirche. Sie wurde dort 1861 aufgestellt. 1863 wurde ein Orgelneubau ausgeschrieben, um den sich die Orgelbauer Ruf, Klingler und Wilhelm Blessing bewarben. Der aus Esslingen am Neckar stammende Wilhelm Blessing erhielt den Auftrag für eine Orgel mit 18 Registern, der während des Baus auf 19 Stimmen erweitert wurde. 1865 war das Instrument fertiggestellt.

In einem neugotischen Gehäuse wurden sechs Kegelladen („Springladen“) mit mechanischer Traktur auf drei (Höhen-)Ebenen angeordnet. Die originale Anordnung der Windladen war: Für das l. Manual drei Windladen übereinander, für das II. Manual zwei Windladen übereinander, für das Pedal eine Windlade. Dies war offenkundig bedingt durch den geringen Platz auf der alten Steinempore und erklärt sowohl das Fehlen von Wartungs- und Stimmgängen als auch die Lage der Manualwindladen in zwei bzw. drei Ebenen übereinander.

Die Orgel erhielt einen freistehenden Spieltisch mit Blick in den Kirchenraum. Zur Windversorgung dienten drei Kastenbälge, wie Blessing sie in seinen Orgeln üblicherweise baute. Diese standen wohl auf dem Dachboden und versorgten die Orgel über lange Kanäle mit Wind. Zum genauen Standort, der Windführung oder der Betätigungsmechanik wurden keine Anhaltspunkte mehr gefunden.

Die durch die Aufteilung des I. Manuals auf drei Windladen bedingte Trakturführung zu drei Wellenrahmen war sicherlich, wie bei anderen Blessing-Orgeln auch, gut ausgeführt, aber die komplizierte Mechanik erschwerte das Spiel und die präzise Regulierung der Traktur.
Die Orgel stand auf der ursprünglichen Steinempore ganz an deren Rückwand. Darauf weist der ,ausgenommene‘ Gurtrahmen an der Cs-Seite hin. Nur dadurch konnte die Orgel mittig stehen und kollidierte nicht mit dem gewendelten Aufgang zum Dachboden. In der später (1877) vorgezogenen Position des Gehäuses ist dieser Ausschnitt im Gurtrahmen sinnlos; er wurde jedoch als Beleg beibehalten.

1877 wurde die Empore durch eine aufgesetzte Holzkonstruktion erweitert, durch die Platz gewonnen wurde. Hierzu musste das gesamte Orgelwerk abgebaut werden. Ab- und Wiederaufbau wurden von dem Geislinger Orgelbauer Gustav Knaisch ausgeführt. Der neue Standort war etwa einen Meter von der Rückwand entfernt und hatte den Vorteil, dass die Orgel nun von allen Seiten zugänglich war. Das Emporenniveau selbst lag nun jedoch etwas höher als vorher, wodurch die Orgel teilweise mit dem Kreuzrippengewölbe kollidierte. Davon zeugten bis 2012 einige gekürzte Kreuzblumen auf den Fialen des Prospekts und gekröpfte Pfeifen der Oberladen.

Möglicherweise wurde durch den Ab- und Aufbau die ohnehin schon komplizierte Traktur nicht unbedingt besser. Die sehr komplizierte Mechanik vor allem des I. Manuals verlief von den zweiarmigen Tasten nach unten, über den ersten Winkelbalken im Spieltisch durch den Trakturschacht unter dem Organisten hindurch in die Orgel. Dort ging es über einen weiteren Winkelbalken und ein vertikales Wellenbrett an den Wellenrahmen der mittleren Windlade. Von diesen Wellen wurden die Kegel dieser Windlade gehoben. Von dort ging die Traktur weiter nach unten zur Mixturwindlade, die nahezu auf Bodenniveau lag, sowie strahlenförmig nach oben, zwischen den Kanzellen hindurch zur Oberlade. Selbst bei präzisester Ausführung machte diese komplizierte Anlage es schwierig, diese drei Windladen aufeinander einzuregulieren und ein leichtes Spielgefühl herzustellen.

Aufgrund der kompakten Bauweise und in Folge der schweren Zugänglichkeit für Wartungsarbeiten geriet das eigentlich gut und solide gebaute Instrument im Lauf der Zeit in schlechten Zustand und in Verruf. Die Orgel verlor 1917 ihre Prospektpfeifen (Gewicht 84,5 kg), die 1920 von den Gebr. Stehle in Bittelbronn durch Zinkpfeifen ersetzt wurden. Entsprechend den damaligen Standards glaubte man bald danach, das Instrument nur noch durch das Ersetzen der Mechanik durch moderne Pneumatik retten und verbessern zu können. Beim nun folgenden Umbau in den Kriegsjahren 1939 – 1943 nahm man sich nicht des Platzmangels an, des eigentlichen Problems der Orgel. Man vergrößerte es sogar noch, indem man weitere Register und Windladen, ja sogar einen Schwellkasten hinzubaute. Die Orgelbaufirma Stehle bekam hierzu den Auftrag. Die lange Dauer der Ausführung dieser Arbeiten ist nicht nur mit den Schwierigkeiten der Metallbeschaffung in der Zeit des Kriegs zu erklären, sondern vermutlich auch durch die Möglichkeit der Befreiung vom Fronteinsatz während der Baumaßnahme.

Der Umbau von 1939 – 43 bestand in folgenden Arbeiten: Man entfernte die gesamte Mechanik, die Windkanäle und das Lagerwerk der Windladen. Die vorhandenen Windladen wurden weiterverwendet, jedoch wurde die Kanzelle des Dolce 4′ entfernt. Alle Windladen bekamen pneumatische Vorrelais und Membranleisten, um die Kegel zu heben. Ergänzend wurde eine zusätzliche dritte Windlade für das II. Manual hergestellt, die man ebenfalls auf den Boden legte. Zusätzlich wurden mehrere Diskantwindladen für die damals eingefügten und im Diskant ausgebauten Superoktavkoppeln hinzugefügt. Alle Manualwindladen wurden um zwei Töne (fis‘‘‘ und g‘‘‘) erweitert und auf ein ganz neues Lagerwerk gestellt. Der übrige Platz wurde durch die pneumatische Traktur und einen Schwellkasten auf drei Ebenen ausgefüllt. Eine Windabschwächung für den Subbass, ein Tremulant und ein neuer pneumatischer Spieltisch mit einigen zu dieser Zeit üblichen Kombinationen kamen hinzu. Die Register wurden teilweise wiederverwendet, jedoch mehrfach geteilt, umgestellt, abgeschnitten oder im günstigsten Fall auf dem Dachboden eingelagert. Mit Dispositionsveränderungen und Erweiterungen versuchte man, den Klang zu barockisieren, da wohl die vielen grundtönigen 8′-Register nicht mehr zeitgemäß erschienen. Wegen der nicht optimalen Materialversorgung in den Kriegsjahren konnten alle pneumatischen Verbindungen nur aus sprödem Aluminiumrohr gefertigt werden. Die Kegel wurden erneuert und auf Aluminiumdrähte aufgedreht.

Am Ende dieser Arbeiten hatte man eine Orgel mit stark verändertem Klang und vielen neuen Spielhilfen, jedoch ohne eine Möglichkeit der Wartung für diese (in diesem Fall störungsanfällige) Technik. Auch eine Stimmung etwa der Hälfte des gesamten Werkes war danach nicht mehr möglich. Freilich waren durch die sich über mehrere Kriegsjahre hinziehenden Arbeiten an der Orgel in Inneringen Orgelbauer der Firma Stehle „beschäftigt und unabkömmlich“.

Schließlich wurde seit den 1970er Jahren eine Renovierung oder gar ein Orgelneubau angestrebt. 1993 gaben drei Orgelbauer für letzteres ein Angebot ab, jedoch entschied man sich 1998 für eine Überarbeitung durch den Orgelbaumeister Hans Peter Reiser. Dieser baute ein neues Gebläse ein und führte Reinigungs- und Reparaturarbeiten aus. Dank dieser wohl vor allem auf finanziellen Erwägungen beruhenden Entscheidung für die Reparatur blieb das Instrument zunächst unverändert und konnte 14 Jahre später restauriert und im Stil des Orgelbauers Wilhelm Blessing rekonstruiert werden.

Beim Studium aller noch vorhandenen und uns bekannt gewordenen Orgeln aus der Werkstätte Blessings konnte man die hochwertige Ausführung seiner Arbeiten erkennen. Diese Vergleichsinstrumente, die aufwändige Ausführung des Orgelgehäuses und der große Anteil originaler Substanz machten eine Restaurierung und Rekonstruktion für uns möglich und erstrebenswert.

Das Restaurierungskonzept

Wegen der Bedeutung des Orgelbauers, seiner hochwertigen Arbeit in einer relativ kurzen Schaffensperiode, der aber nur wenige erhaltene Instrumente gegenüberstehen, zog man die Restaurierung und Rekonstruktion auf der Grundlage des Zustands von 1865 in Erwägung. Der große Anteil an erhaltener Originalsubstanz, hier vor allem die Windladen, das Gehäuse und das Pfeifenwerk, aber auch die gut erhaltenen Vergleichsorgeln, machten eine Rückführung im Sinne des Erbauers möglich. Man war sich dabei aber auch der Probleme bewusst, die dieses Instrument seit Beginn hatte. Der Platzmangel auf der ursprünglichen Empore war seit 1877 nicht mehr so groß. Es gab sogar einen ganzen Meter ungenutzter Raumtiefe hinter der Orgel. Die oben beschriebenen Probleme mit der komplizierten Traktur und der schweren Zugänglichkeit wollten wir nach Möglichkeit entschärfen. Hinzu kam, dass durch die Entfernung des originalen Lagerwerks keine Anhaltspunkte mehr für die ursprüngliche Lage der Windladen gefunden wurden. Es ist auch nicht bekannt, dass Blessing jemals an einem anderen Ort drei Windladen eines Werks übereinander angeordnet hätte.

Diese Überlegungen führten zu einem Konzept, das zwar relativ streng den Stil Blessings respektiert, jedoch den Platz hinter der Orgel nutzt, um das Gesamtkonzept zu verbessern. Dabei rückte die Pedalwindlade nach hinten und liegt nebst Stimmgang über dem Durchgang zum Treppenhaus in einem erweiterten Obergehäuse. Der dadurch hinzugewonnene Raum ermöglichte im ursprünglichen Orgelgehäuse das Einrichten von Wartungsgängen und das Zusammenführen der mittleren und unteren Windlade des Hauptwerks, wodurch nur zwei Höhenebenen nötig waren und später gekröpfte Pfeifen auf den oberen Laden wieder begradigt werden konnten.

Das vorhandene Original-Pfeifenwerk konnte wieder seinen ursprünglichen Positionen zugeordnet werden, und gab genügend Anhaltspunkte, um die fehlenden Pfeifen zu rekonstruieren. Traktur und Spieltisch wurden anderen Blessing-Orgeln nachempfunden, wobei der Spieltischaufbau den heutigen Spieltischnormen geringfügig angepasst wurde. Als Windversorgung sollte das Orgelgebläse von 1993 dienen und die Orgel über einen Schwimmerbalg mit Wind versorgen. Da es keine Anhaltspunkte für die ursprüngliche Windversorgung auf dem Speicher und auf der Empore keinen Platz für eine Kastenbalganlage gab, schied die Lösung einer Rekonstruktion der Kastenbälge aus.

Aus dem Bericht für Ars Organi, Johannes D. C. Vleugels

 
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DISPOSITION

I. Manual C-f‘‘‘

  1. Bourdon 16’
  2. Principal 8’
  3. Floete 8‘
  4. (Groß)Gedeckt 8‘
  5. (Viola di) Gamba 8‘
  6. Octav 4‘
  7. Rohrfloete 4‘
  8. Dolce 4‘
  9. Octav 2‘
10. Mixtur 4f. (ist 4-5f.) 2 2/3’

II. Manual C-f’’’

11. Geigenprincipal 8’
12. Lieblichgedeckt 8’
13. Salicional 8’
14. Fugara 4’
15. Floete 4’
16. Clarinet (durchschlagend) 8’

Pedal C-d’

17. Subbass 16’
18. Violon 16’
19. Octavbass 8’
20. Posaune 16’

3 Normalkoppeln
Kegelladen (Springladen) mit mechanischer Ton- u. Registertraktur, im I. Manual 2 Windladen
übereinander (original 3 Ebenen), im II. Manual 2 Windladen übereinander
Schwimmermagazin links neben der Orgel (ursprünglich 3 Kastenbälge)
Spieltisch freistehend vor der Orgel mit Blick zum Altar (neu)
Alle neuen Innenpfeifen auf der Innenseite handabgezogen, bei den Prospektpfeifen alle Labien eingelötet und handabgezogen.
Forte Tritt (rechts): Alle Register außer den beiden Zungen 16. und 20.