Erbendorf, Mariä Himmelfahrt, IIII/56- Opus 463
Ein Kriminalroman für Erbendorf: Hauptdarsteller ist die Konzertsaalorgel aus Baden-Baden
Oder: Wie kommt eine Konzertsaalorgel nach Erbendorf?
Der ursprüngliche Erbauer dieser historischen Konzertsaal-Orgel war die Fabrik für Orgelbau – Heinrich Voit & Söhne – in Karlsruhe-Durlach. Die Chronik der Orgelbauer Voit beginnt 1770 mit der Gründung einer Werkstätte in Schweinfurt. Um 1820 baut man dort als einer der ersten das „Aeolodikon“, ein Vorläufer Instrument des Harmoniums mit durchschlagenden Zungen. Als Gründungsjahr der Durlacher Werkstätte wird das Jahr 1794 genannt. Auch in Durlach denkt man sehr fortschrittlich und stellt um 1862 auf die Herstellung von Kegelladen mit eisernen Hubwellen um. Schon 1864 ist bei Voit der Bau eines Magazinbalges belegt. 1885 wird beim Bau einer Orgel für Forst bei Bruchsal der erste Versuch mit elektrischer Traktur gemacht und schließlich 1890 die pneumatische Traktur eingeführt (3 Jahre nach dem Orgelbauer Weigle und 1 Jahr vor den Orgelbauern Walcker und Steinmeyer). 1899 gelingt Voit die Entwicklung einer eigenen Windlade mit stehenden Taschen. Vorbild war ein ähnliches System der Orgelbaufirma Roosevelt aus New York. Die Firma Voit besteht bis in das Jahr 1930. Dann gibt Siegfried Voit das Geschäft auf und der frühere Betriebsleiter und Intonateur Carl Hess übernimmt die Werkstatt Voit. Von eben diesem Carl Hess finden wir auch Signaturen auf den Pfeifen der Baden-Badener Orgel – er hat also diese auch intoniert. Das Werkverzeichnis der Firma Voit weist schon im Jahr 1907 das 1000ste Instrument auf und damit zählt diese Firma zu den größten und führenden Orgelbauwerkstätten Europas.
Obwohl man sich schon seit 1890 in Werbeprospekten auch für den Bau von „Concertorgeln“ und für elektrische Systeme empfiehlt, beginnt die Liste der Konzertsaalorgelbauten erst im Jahr 1900 mit dem Instrument des Treviris Saales in Trier. Zwischen 1900 und 1917 entstehen 15 große Konzertsaalorgeln in deutschen Großstätten, aber auch im Ausland wie z. B. im Smetana-Saal zu Prag (durch unsere Werkstatt 1997 restauriert), im Liszt Konservatorium zu Budapest (von Fa. Klais nach den Vorbildern von Prag, Heidelberg und Baden-Baden rekonstruiert) oder für die Hochschule für klassische Musik in Paris (dieses Instrument existiert leider nicht mehr). Von all diesen Konzertsaalorgeln besaß das 1903 für die Heidelberger Stadthalle erstellte Instrument die richtungsweisende Weichenstellung. Hier wurde erstmals eine elektro-pneumatische Traktur verwirklicht und damit ein mobiler Spieltisch. Unser Haus durfte diese Orgel im Jahr 1993 restaurieren und wieder zum Erklingen bringen.
Ihr Instrument in Erbendorf wurde im Jahr 1916 für den Konzertsaal des Kurhauses in Baden-Baden erstellt. Die Beratung der Stadt übernahm damals Philipp Wolfrum aus Heidelberg, der ebenfalls schon bei der Heidelberger Stadthallenorgel verantwortlich war. Die Daten des mitten im 1. Weltkrieg für ein verwöhntes Publikum fertiggestellten Konzertsaales waren beeindruckend. Der große Saal verfügte über 863 Sitzplätze und konnte nach dem Öffnen der Verbindungstüren zusammen mit dem kleinen Konzertsaal bis zu 1230 Besucher fassen. Die Konzertbühne bot bis zu 300 Mitwirkenden Platz. Die Saaldecke ist ein Tonnengewölbe und direkt unter diesem war oberhalb der Bühne – hinter einem filigranen Messinggitterwerk verborgen – die Konzertsaalorgel von Voit eingebaut. Das Orgelwerk stand in einem Gesamtjalousiekasten und das 3. Manual innerhalb dieses Gehäuses in einem weiteren Schwellkasten. Der elektrische Spieltisch war nach dem Heidelberger Vorbild auf der Bühne fahrbar eingerichtet. Die Hauptarbeiten fanden wohl im Jahr 1915 statt, da vom 26. Januar 1916 das Abnahmegutachten Wolfrums datiert. Darin regt er auch die Einrichtung zweier Zusätze an. Einer davon war der Einbau einer Celesta. Diese wurde dann im Jahr 1917 mit der Firma Schiedmayer erstmals für einen Einbau in eine Pfeifenorgel realisiert. Erste Konzerte auf dieser Orgel fanden u. a. von Philipp Wolfrum, Karl Straube und Günther Ramin statt. Diese Orgel fand so europaweite Beachtung.
Der weitere Weg dieses Instrumentes liest sich wie ein kleiner Krimi, der nun schließlich sein glückliches Ende in Erbendorf findet. Um das Jahr 1960 wird in den Baden-Badener Konzertsaal eine Flachdecke eingezogen. Der größte Anteil des Orgelklangs verlor sich seitdem im toten Raum darüber. Das vernichtende Urteil kam um das Jahr 1980, als man für das Einbauen von Klimatechnik Platz für Kanäle suchte. Da der Orgelklang wegen der Flachdecke ohnehin nicht mehr beeindruckend war, wurde das Instrument geopfert. Bislang konnten wir keinen Orgelbauer ausfindig machen, der beim Ausbau des Instrumentes federführend verantwortlich war. Vermutlich wurde der Großteil dieser Arbeiten von Bauarbeitern ausgeführt. Orgelteile lagen tagelang vor dem Kurhaus und das vorbeiflanierende Publikum konnte sich an Pfeifen und Orgelteilen bedienen. Das Instrument galt in der Fachwelt als vernichtet.
Ebenfalls bis heute unbekannt ist, wer letztendlich der Retter dieser Orgel war und für eine Einlagerung der ausgebauten Teile sorgte.
Ab Mitte der 1990er Jahre tauchten dann in verschiedenen Lagerstätten im Raum Karlsruhe (und später auch bei Privatpersonen) Orgelteile noch unbekannter Herkunft auf. Glücklicherweise hat man unser Haus relativ früh dazu gerufen. Nach Untersuchungen/Bestandsaufnahmen, die sich über mehrere Monate erstreckten, konnten wir schließlich eindeutig belegen, dass es sich bei den aufgefundenen Orgelteilen um die ehemalige Kurhaus Orgel von Baden-Baden handelte.
In den folgenden Jahren folgten weitere Forschungsarbeiten hierzu. Durch das Zusammentragen von Teilen aus verschiedenen Lagerstätten, von Privatpersonen, insbesondere auch unter Mithilfe von Herrn Dr. Könner vom LDA und von Herrn Prof. Wagner aus Heidelberg sowie des Badener Tagblattes verfestigte sich mehr und mehr das Bild, dass ein überraschender Großteil des Bestandes sowie Pfeifen eigentlich aller Register (wenn auch nur in Teilen) vorhanden ist. Schließlich folgte schon damals auch die Suche nach einem Aufstellungsort, wobei natürlich zunächst Baden-Baden selbst prädestiniert gewesen wäre. Im dortigen Konzertsaal des Kurhauses war die eingezogene Zwischendecke inzwischen wieder entfernt und das klassizistische Tonnengewölbe hervorragend restauriert worden. Das vorhandene Messinggitter, hinter dem sich die Orgel verbarg, ist bis heute vorhanden. Und die wenigen Kanäle der Klimatechnik im Bereich des Orgelstandortes hätten aus unserer Sicht kein Hindernis für einen Wiederaufbau am originalen Standort dargestellt. Leider leider hat man in Baden-Baden diese Chance verpasst.
Da das Land Baden-Württemberg Teile der Lagerstätten schließlich einem anderen Verwendungszweck zuführen wollte, ergab sich nach monatelangen Verhandlungen, dass unser Haus dem Land Baden-Württemberg sämtliche eingelagerten Orgelteile zu einem symbolischen Betrag abkaufen konnte. Im Sommer 2009 wurden danach aus verschiedenen Lagerstätten sämtliche Voitschen Orgelteile der ehemaligen Kurhausorgel in unserem Lager zusammengeführt und nochmals einer eingehenden Bestandsaufnahme unterzogen. Da eine Wiederaufstellung in Baden-Baden weiterhin ausgeschlossen war, suchten wir seitdem einen neuen Aufstellungsort für dieses Instrument. Zahlreiche Kirchengemeinden und Orgelexperten haben sich seither dafür interessiert und auch bei den Führungen in unserer Werkstätte war es immer ein Highlight, auf diese eingelagerten Orgelteile hinweisen zu können.
Etwa ein Jahrzehnt lang fand sich kein geeigneter Aufstellungsort, bis schließlich über Herrn Dr. Könner vom Bayerischen LfD der Kontakt zur Gemeinde Erbendorf hergestellt wurde. Hier kamen erstmals alle notwendigen positiven Aspekte „sozusagen unter einen Hut“. Der weitere Werdegang bis zur Fertigstellung und Einweihung in Erbendorf ist ja hinreichend dokumentiert.
Kurioses am Rande: Eine Rarität dieser Orgel, das durchschlagende Zungenregister Clarinette 8‘, hatten wir bei unseren Bestandsaufnahmen schon vermessen. Bei der Abholung der Orgelteile fehlte es plötzlich. Örtlichen Hinweisen war es zu verdanken, dass wir es bei einem Kollegen ausfindig machen konnten, der dieses Register zum Vermessen in seine Werkstätte verbracht hatte. Selbstverständlich hatte er uns diese Pfeifen umgehend wieder zurückgebracht. Und eine weitere Rarität, die weltweit erste Orgelcelesta aus dem Jahr 1917, wurde lange vermisst. Sie fand sich schließlich in einem Kellerarchiv des Badischen Landesmuseums in Bruchsal. Dort tauchte überraschend noch eine Holzkiste auf mit der Aufschrift Orgelteile aus Lager Karlsruhe! Darin fanden wir dann die besagte Celesta, die somit jetzt ebenfalls wieder erklingen kann.
DISPOSITION
I. Manual C – a’’’
1. Großprincipal 16’
2. Principal 8’
3. Gamba 8’
4. Spitzflöte 8’
5. Harmonieflöte 8’
6. Gedackt 8’
7. Octave 4’
8. Rohrflöte 4’
9. Superoctav 2’
10. Kornett 3-5f. 8’
11. Mixtur 3-4f. 2‘
12. Fagott 16’
13. Tuba 8’
14. Clarine 4’
II. Manual C – a’’’’
15. Bordun 16’
16. Geigenprincipal 8’
17. Salicional 8’
18. Unda maris 8’
19. Konzertflöte 8’
20. Liebl. Gedackt 8’
21. Quintatön 8’
22. Kleinprincipal 4’
23. Flauto amabile 4’
24. Waldflöte 2’
25. Quinte 2 2/3’
26. Terz 1 3/5‘
27. Cymbal 3f. 1 1/3‘
28. Engl. Horn 8’
29. Hoboe 4’
III. Manual (schwellbar) C – a’’’’
30. Zartgedackt 16’
31. Diapason 8’
32. Aeoline 8’
33. Vox coelestis 8’
34. Zartflöte 8’
35. Nachthorn 8’
36. Dolce 4’
37. Traversflöte 4’
38. Gemshorn 4’
39. Flautino 2’
40. Echo-Kornett 4‘
41. Klarinette 8’
Pedalwerk C – f’
42. Untersatz 32’
43. Principalbass 16’
44. Contrabass 16’
45. Subbass 16’
46. Bordunbass 16’
47. Zartbass 16‘
48. Quintbass 10 2/3’
49. Octavbass 8’
50. Violoncello 8’
51. Stillgedackt 8’
52. Bassett 4’
53. Contra-Bombarde 32‘
54. Bombarde 16’
55. Trompete 8’
56. Clairon harmoniqon 4’
Nebenregister
57. Celesta