Reichenbach bei Lahr, St. Stephanus, II/25 – Opus 433

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Eine lohnenswerte Rekonstruktion

Reichenbach bei Lahr St. Stephanus, Orgel von Konrad Albiez 1849, Martin Braun 1880, Restaurierung und Rekonstruktion Vleugels 2016

Üppige Flötentöne

Zur Stadt Lahr (Schwarzwald) zählt die 1139 im Zusammenhang mit dem Kloster Gengenbach erstmals urkundlich erwähnte Ortschaft Reichenbach im Schuttertal. Ihre romanische Kirche ist nicht erhalten. Dafür prägt das Ensemble von öffentlichen Gebäuden aus der Mitte des 19. Jahrhunderts das heutige Dorfbild. Mittelpunkt ist die stattliche St.-Stephanus-Kirche aus dem Jahr 1846 nach Plänen des Bezirksbaumeisters Bartholomäus Weber aus Offenburg. Der neuromanische Bau im Stil einer Basilika ist im Inneren weitläufig und hell. Zur weitgehend erhaltenen Originalausstattung gehören drei wertvolle Altarbilder von Bemhard Endres und eine dezente Farbverglasung, die vor allem bei niedrigem Sonnenstand für angenehm warmes Licht sorgt.

Als 1848 in Baden die Revolution ihren Höhepunkt erreichte, entstand die neue Orgel für Reichenbach. Der aus dem Hotzenwald (südlichster Teil des Schwarzwaldes) stammende

Orgelbauer Konrad Albiez (1806- 1878) errichtete hier eines seiner größeren Werke. Er hatte 1825-1830 bei Blasius Schaxel im nahen Herbolzheim gelernt, 1834 seine Konzession erhalten und 1839 in Waldshut eine eigene Werkstatt eröffnet. Das Oeuvre dieses Orgelbauers ist sowohl qualitativ als auch quantitativ keineswegs unbedeutend; es gibt jedoch kaum zweimanualige Instrumente aus dieser Werkstatt, die authentisch genug erhalten sind, um zuverlässige Detail-Aussagen über ihre ursprüngliche technische und klangliche Beschaffenheit wagen zu können.

Am 2. 10. 1845 bot Albiez für Reichenbach zunächst 20 Register an, lieferte aber 22 Stimmen. Zudem legte er im Hauptwerk und im Pedal je eine freie Schleife an, um dort später Zungenregister einzustellen. Wohl als Provisorium richtete er (wie auch andernorts) eine Kuriosität ein: Damit das Pedal überhaupt ein kräftiges Zungenregister besaß, stellte Albiez eine Posaune auf, die in der großen Oktav als 8′ begann, in der kleinen auf 16′ repetierte. Bei einer späteren Komplettierung der Zungenstimmen hätte man beide Registerhälften verwenden können. Das Abnahmegutachten vom 27. Februar 1849 stammt von Domkapellmeister Leonhard Lumpp, Dompräbendar zu Freiburg im Breisgau.

1860 bot Albiez die beiden fehlenden Register an. Er verstarb am 6. Oktober 1878, nachdem er zuvor die Pfeifen angefertigt hatte. 1880 baute Martin Braun aus Hofen bei Spaichingen ,,diese Pfeifen“ ein, wobei unklar ist, ob es sich dabei um das Material von Albiez handelte oder ob Braun diese Register neu lieferte. Auch die Reichenbacher Albiez-Orgel wurde mehrfach verändert. 1908 empfahl Domkapellmeister Gustav Alois Schweitzer einen Umbau auf pneumatische Steuerung und die Erweiterung um zusätzliche Register. Wie fast überall in Deutschland mussten 1917 die Prospektpfeifen für die Rüstung abgeliefert werden; die Firma Voit (Durlach) lieferte 1920 Ersatzpfeifen aus Zink. Bei dieser Gelegenheit wurde erst die Disposition geändert. Im I. Manual entfiel Waldflöte 2′, an deren Stelle trat Dolce 8′; im II. Manual wurden Quint und Flageolett durch Aeoline und Vox coelestis ersetzt. Domkapellmeister Carl Schweitzer würdigte zwar AIbiez‘ Qualität in seinem Gutachten vom 18.2. 1921, regte aber an, die Zungenstimmen, insbesondere Fagott Oboe 8′, unter anderem wegen ihrer schlechten Stimmhaltung und damit ihres geringen Nutzens zu ersetzen. 1922 wurde denn auch dieses Register gegen eine Flöte 8′ getauscht. Für den Orgelbauer berechnete der Lindenwirt am 4.11.1922 250 Mark für das Mittag- und Abendessen, 110 Mark für dasZimmer sowie 80 bzw. 85 Mark für Frühstück und Vesper auf der Reise. Das zu Jahresbeginn der Gemeinde für 1.600 Mark überlassene Flötenregister veranschlagte die Firma Voit am 13. Oktober 1922 bereits mit 90.000 Mark.

Sonderlich zufrieden waren die Reichenbacher mit dem Zustand ihrer bis dato noch immer mechanisch gesteuerten Orgel offenbar nicht, denn es wurden mehrfach Angebote über weitere Arbeiten eingeholt. Am 24.2.1930 wurde die Waldkircher Firma Anton Kiene beauftragt, ein elektrisches Orgelgebläse ,,Kalkant“ einzubauen.

Zu tiefgreifenden Veränderungen kam es 1953, als die Empore um ca. zwei Meter abgesenkt und die Orgel durch Willy Dold (Freiburg) auf elektropneumatische Traktur umgestellt wurde. Die Schleifladen des Pedals wurden durch Kegelladen ersetzt und in seitlichen Anbauten untergebracht, so dass die Orgelfront nach hinten gerückt werden konnte. Damit wurde mehr Platz für Ensembles geschaffen.

Die Disposition wurde nach damaligem Zeitgeschmack und Vorschlägen von Domkapellmeister Prof. Franz Stemmer (Freiburg) umgestaltet. Der zunächst zentral positionierte Spieltisch wurde in den 1970er Jahren an die Südseite verlegt.

2016 restaurierte die Orgelmanufactur Vleugels aus Hardheim (Odenwald) das Instrument und rekonstruierte in weiten Teilen den ursprünglichen Zustand. Dazu gehörte unter anderem, die mechanische Ton- und Registertraktur wieder neu einzurichten, die Pedallade zu rekonstruieren, eine dem frühromantischen Duktus adäquate Windversorgung zu schaffen sowie das Pfeifenwerk zu sanieren und zu ergänzen. Selbstverständlich wurde die Gehäusesituation wieder zurück geführt, so dass nun die beiden Manuale im Hauptcorpus stehen, dahinter, etwas tiefer, das Pedal. Die gesamte Orgel wurde wieder zur Brüstung hingerückt. Der leergeräumte Spielschrank im Zentrum des Untergehäuses wurde reaktiviert.

Technisch wie klanglich kam am ehesten die Albiez-Orgel von St. Peter und Paul in Lahr (1847 -54) als Referenz-Instrument in Betracht. Doch auch sie war inzwischen erheblich verändert worden, so dass vor allem Intonateur Christian Heiden hohe Sensibilität einbringen musste, um für Reichenbach ein stimmiges musikalisches Konzept zu finden. Denn die rekonstruierte Ausgangs-Disposition gibt einige zusätzliche Rätsel auf. Es fehlt ein prinzipalisches 2′-Register. Mixtur und Cornet im Hauptwerk liegen beide tief. Beide Manuale enthalten Cornet-Register (Quint im II. Manual wird ab cr zur Sesquialtera). Die Zungenstimme Fagott Oboe steht im I. Manual, nicht wie gewöhnlich im II. Manual; die bei dieser Orgelgröße zu erwartende Trompete fehlt. Im Pedal gab es (ursprünglich) kein leises 16′-Register (Subbaß). Das kräftige Zungenregister im Pedal baute Albiez wohl öfter als Kombination: in 8′-Lage beginnend, dann in 16’übergehend; so ist es in Rickenbach noch erkennbar. Da die Pedal-Windladen ohnehin neu gebaut werden mussten und lediglich ein einziges Zungenblatt (auf dem Dachboden) erhalten war, wurde sinnvollerweise zusätzlich zur (voluminösen) 16′-Posaune eine Trompete 8′ eingerichtet. – Einige dieser Eigenarten finden sich auch in der Disposition von St. Peter und Paul in Lahr.

Die von Albiez erhaltenen Teile der technischen Anlage und des Pfeifenwerks zeigen durchweg eine sehr hohe Qualität. Bei letzterem konnte die Provenienz nicht immer zweifelsfrei geklärt werden, so dass sich hinter der in nachstehender Disposition verwendeten Bezeichnung ,,Bestand“ durchaus verändertes Albiez-Material verbergen kann. Die technische Anlage ließ sich anhand der vorhandenen Teile und Spuren sowie durch Vergleiche mit anderen Albiez- Orgeln weitgehend ermitteln. Knapp bemessen ist der ursprüngliche Stimmgang zwischen den beiden Laden von Haupt- und Hinterwerk im vorderen Gehäuse. Deshalb wurde ein früherer Emporenzugang an der Kirchenrückwand genutzt, der heute etwa drei Meter über dem zwischenzeitlich abgesenkten Bodenniveau liegt. Eine Brücke führt von dort über das Pedalwerk hinweg zu einem breiteren zusätzlichen Stimmgang, so dass viele Register von dort aus bequem zu erreichen sind.

Weil Albiez nicht am Zinn sparte, sind die Legierungen der Metallpfeifen auffallend hart und die Wandungen extrem stark. Dies führte dazu, dass das Stimmen sehr schwierig war, wie an den gestauchten Labien und den Pfeifenmündungen deutlich zu sehen war. Deshalb wurden in vielen Registern Stimmringe angebracht, um die Originalsubstanz nicht weiter zu belasten.

Die Intonation überrascht durch flötige FülIe. Das gilt auch und besonders für den Prinzipalchor sowie für einige Stimmen, die dem Namen nach eher der Streichergruppe zuzurechnen sind, etwa Viola di Gamba. Deutlich streichend dagegen ist Dolce 4′ im II. Manual. Je nach Registrierung können die Prinzipale das Bindeglied zwischen Flöten und Streichern bilden – oder umgekehrt. Untypisch, aber apart ist auch die Besetzung des Hauptwerks mit zweierlei 4′-Flöten. Mit diesem Fundus lässt sich eine Fülle von Schattierungen gewinnen, die weite Teile des Orgelrepertoires – vorzugsweise aus dem 18. und 19. Jahrhundert zugänglich macht.

Der akustische Gesamteindruck ist am Spieltisch bei guter Balance etwas abgemildert, was bei längerem Üben eher angenehm ist. Im Kirchenraum summieren sich die vermeintlich bescheidenen Einzeltöne zu einem sonoren und üppigen Ganzen. Höhepunkt des Plenums ist die terzlose Mixtur der man tunlichst das 16′-Fundament angedeihen lässt. Gut in das Tutti integrieren lassen sich die Cornette und das flexibel einsetzbare Zungenregister Fagott Oboe.

Ziel der vom Erzbischöflichen Orgelinspektor Matthias Degott (Gengenbach) begleiteten Arbeiten war nicht eine exakte Rekonstruktion; es galt vielmehr, ein gut nutzbares Musikinstrument mit vielen Klangfarben zu schaffen, das auch in Zukunft noch erfreuen wird. Dieses Konzept dürfte aufgegangen sein, zumal in der nächsten Umgebung einige restaurierte historische Orgeln aus dem 18. bis 20. Jahrhundert in sehr individuellen Stilausprägungen stehen, so etwa Ettenheimmünster (Johann Andreas Silbermann, 1769), Seelbach (Ferdinand Stieffell, 1781), Schweighausen (Matthias Martin, 1809) oder Schuttertal (Friedrich Wilhelm Schwarz, 1910). Die Orgellandschaft am Oberrhein ist durch die wieder hergestellte Reichenbacher Albiez-Orgel um ein Werk der Frühromantik reicher geworden, einer Zeit also, aus der Klangdenkmäler dieser Größenordnung und Güte selten sind.

 
Markus Zimmermann
Ars Organi, Juni 2017
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DISPOSITION

I. Manual – Hauptwerk C-f“‘

1. Principal 8′
2. Praestant 4′
3. Viola di Gamba 8′
4. Bourdon 16′
5. Cornet 4f. ab c‘ 4′
6. Fugara 8′
7. Bourdon 8′
8. Spitzfloete 4′
9. Rohrfloete 4′
10. Waldfloete 2′
11. Mixtur 4f. 2′
12. Fagott-Oboe 8′

II. Manual – Hinterwerk C-f“‘

13. Gemshorn 8′
14. Salicional 8′
15. Lieblich Gedeckt 8′
16. Dolce 4′
17. Rohrfloete 4′
18. Quint – ab c‘ 2f. 3′
19. Flageolett 2′

Pedal C-d‘

20. Principal Baß 16′
21. Sub Baß 16′
22. Octav Baß 8′
23. Violoncello Baß 8′
24. Posaun Baß 16′
25. Trompet Baß 8′

3 Normalkoppeln (Koppelung)
Manualkoppel als Schiebekoppel